Wir sind gefragt. Gedenkfeier an der Gedenkplatte für die ehemalige Bodenheimer Synagoge am 30.10.2019

Fünfzig Menschen aus aller Welt besuchten auf Einladung des Kulturbunten Bodenheim am 30. Oktober 2019 die Sonderausstellung des Heimatmuseums „Zur Geschichte jüdischen Lebens in Bodenheim“, ein Thema, das der Initiator der Ausstellung Horst Kasper seit langem intensiv aufarbeitet und dafür sehr viel Anerkennung geerntet hat (https://www.allgemeine-zeitung.de/lokales/mainz/vg-bodenheim/bodenheim/ausstellung-uber-judische-burger-bodenheims_20531595). Um ein Zeichen nach den Vorfällen in Halle zu setzen, wurde im Anschluss an der Gedenktafel für die ehemalige Bodenheimer Synagoge der Opfer der Shoa, des Attentats in Halle und der Flüchtlingsopfer weltweit gedacht. Dabei kamen Texte, Gebete und Lesungen aus den drei abrahamitischen Religionen zu Gehör, die hier hinterlegt sind.

Blick auf die Shoa

Diese Platte hier erinnert an das Verbrechen in der nationalsozialistischen Zeit; an die Shoa, die Vertreibung und Vernichtung der Juden in Deutschland. Es wurden Menschen verfolgt und ermordet, nur weil sie Angehörige einer bestimmten Religionsgemeinschaft waren.  Diesen Ort der Erinnerung gibt es für alle sichtbar mitten in unserem Alltagsleben, damit diese Verbrechen niemals vergessen werden. Wir sind die nächste Generation. Von uns war niemand mehr Teil der Gesellschaft, als diese Gräueltaten geschahen. Wir stehen hier und fragen uns: Wie konnte eine kleine Gruppe von fanatischen Menschen nach und nach eine ganze Gesellschaft mit ihrem Gedankengut vergiften?

Augenzeugenberichte

Am 9. November 1938 war ich 10 Jahre alt und lebte in Hannover. Auf meinem Schulweg kam ich an der Synagoge vorbei, die seinerzeit nur „Judentempel“ genannt wurde. Am Morgen des 9. November stand die Synagoge in Flammen. Schwarz gekleidete alte Männer wurden von SA-Männern geschlagen und auf bereitstehende Fahrzeuge getrieben und gestoßen. Niemand rief um Hilfe; auch Schreie waren nicht zu hören. Polizisten standen tatenlos dabei. Eine Feuerwehr habe ich nicht gesehen.

In der Schule waren wir alle sehr aufgeregt und wollten Genaueres wissen. Die Lehrerin gab nur zur Antwort: Das sollen Euch Eure Eltern erklären. Aber meine Eltern erzählten mir auch nichts. Ich erinnere mich, dass meine Mutter sagte, ich solle die Nachrichten im Radio hören. Unter dem Schweigen meiner Eltern und unserer Lehrer habe ich sehr gelitten.

Als 1941 für die Juden das Tragen des Davidsterns zur Pflicht wurde, hat man auch zu diesem Geschehen überall geschwiegen.

Heute stellen wir mit Erschrecken fest, dass sich rechtes Gedankengut wieder in unserer Gesellschaft ausbreitet.

Zu dieser Entwicklung und den Geschehnissen dürfen wir nicht schweigen. Auch deshalb sind wir heute hier.

Blick auf das Attentat von Halle   

Heute stellen wir mit Erschrecken fest, dass es wieder Menschen gibt, die die Sprache als Gift benutzen. Die etwas aussprechen, was uns vor kurzem noch unsagbar schien. Sie polarisieren und pauschalisieren ganz bewusst. Rechtes Gedankengut breitet sich in der Gesellschaft aus. Und es gipfelt in schrecklichen Verbrechen. Dieses Jahr wurde ein Politiker ermordet. Und jetzt ist in Halle etwas passiert, von dem wir dachten, so etwas ist ganz weit weg, in Amerika oder Australien: ein Attentäter baut sich ein Maschinengewehr und will ein Massaker in einer Synagoge anrichten. Unschuldige Passanten sterben. Es gibt Menschen jüdischen Glaubens, die Deutschland verlassen, nicht wegen dieses einen Anschlags, sondern weil sie in ihrem Alltag unerträglich viel Antisemitismus erfahren. Zu dieser Entwicklung und den Geschehnissen dürfen wir nicht schweigen. Auch deshalb sind wir heute hier.

Blick auf die Flüchtenden heute   

Aber lenken wir unseren Blick über des Problem Antisemitismus hinaus: Unter der Vergiftung von Sprache und Denken leiden nicht nur Menschen jüdischen Glaubens, sondern Tausende, die sich seit Jahren auf der Flucht vor Krieg, Verfolgung, Dürre und Hungersnöten auf den Weg nach Europa machen und hier Aufnahme finden. Nach anfänglicher Hilfsbereitschaft schlägt das Stimmungsbarometer immer mehr in Richtung: „Ihr seid anders, mit Euch wollen wir nicht teilen. Geht woher Ihr gekommen seid!“

Das Mittelmeer ist zum Massengrab geworden – seit 2014 ertranken zwischen 3000 und 5000 Menschen (je nach Schätzung) bei der Überfahrt nach Europa. Das ist, wie wenn ganze Ortschaften plötzlich verschwunden wären. Wie in den 30er und 40er Jahren irren auch jetzt wieder Menschen auf dem Meer herum, weil kein Land sie haben will.

Aber auch diejenigen, die den Weg an Land geschafft haben und in Deutschland eine neue Heimat finden wollen, auch sie müssen sich fragen: Wie geht es weiter? Denn die Bedingungen für ihren Verbleib in Deutschland werden immer schwieriger und das Klima rauer. Wir, die wir die Gnade der späten Geburt genießen dürfen, laufen Gefahr, uns erneut schuldig zu machen. Lasst uns nicht schweigen!

Jüdisches Totengebet

Beim Aufgang der Sonne und bei ihrem Untergang erinnern wir uns an SIE;
Beim Wehen des Windes und in der Kälte des Winters erinnern wir uns an SIE;
Beim Öffnen der Knospen und in der Wärme des Sommers erinnern wir uns an SIE;
Beim Rauschen der Blätter und in der Schönheit des Herbstes erinnern wir uns an SIE;
Zu Beginn des Jahres und wenn es zu Ende geht, erinnern wir uns an SIE;
Wenn wir müde sind und Kraft brauchen, erinnern wir uns an SIE;
Wenn wir verloren sind und krank in unseren Herzen erinnern wir uns an SIE;
Wenn wir Freude erleben, die wir so gern teilen würden erinnern wir uns an SIE;
Solange wir leben, werden SIE auch leben, denn SIE sind nun ein Teil von uns, ‚
wenn wir uns an SIE erinnern.

Maleachi 2,10

Haben wir nicht alle denselben Vater? Hat nicht der eine Gott uns erschaffen?

Warum handeln wir dann treulos, einer gegen den anderen, und entweihen den Bund unserer Väter?

Dieser Text des Propheten Maleachi befindet sich auf dem Gedenkstein für die ehemalige Synagoge in Oldenburg. Dies geschah auf Anregung des ehemaligen Rabbiners Leo Trapp, gebürtig aus Mainz und in der Nazizeit letzter Rabbiner in Oldenburg.

Koran, Sure 49,13

O ihr Menschen, Wir haben euch als Mann und Frau erschaffen und euch zu Völkern und Stämmen gemacht, damit ihr euch einander kennen möget. Der Edelste von euch ist vor Allah derjenige, der am gottesfürchtigsten ist.

Das heißt: Gott liebt alle Menschen, denn Er hat sie ja alle geschaffen. Egal, welcher Hautfarbe du bist, welcher Nation du angehörst, wir sind eine einzige Familie. Deswegen dürfen wir uns nicht in Zwistigkeiten, Rassenkämpfe und Religionskriege verstricken. Der Koran lehnt mit diesen Worten die traurige Wirklichkeit heute in vielen Ländern strikt ab: den Nationalismus und Rassismus.

Gebet

Herr Jesus Christus,                                           

Der du von einer hebräischen Mutter geboren wurdest, nach Ägypten geflohen bist und dann  voll Freude warst über den Glauben einer syrischen Frau und eines römischen Soldaten, der du die Griechen, die dich suchten, freundlich aufnahmst und es zuließest, dass ein Afrikaner dein Kreuz trug: Vereinige die Menschen aller Rassen und Sprachen in deinem Reich der Liebe und des Friedens. Amen

aus Mercedes Sosa, Sólo le pido a Dios

Nur um eins bitte ich dich, Gott, dass das Leiden der anderen mir nicht gleichgültig werde.


Veröffentlicht am

von

Themen: